Längst vorbei die Zeiten, in denen unter dem Stichwort "Agility" auf Suchmaschinen nur Aktivitätstrainings für unsere vierbeinigen Freunde angeboten wurde. Agility als Hundetraining findet nach wie vor statt (s. o.), aber als Keyword haben agile Projektmanagement-Methoden und Frameworks anderen Inhalten den Rang abgelaufen.
Was 2001 von Softwareentwicklern wie Ken Schwaber, Jeff Sutherland u. a. aus Frust über allzu starre Prozesse und unflexible Zielvorgaben als "Agiles Manifest" formuliert wurde, hat längst seinen internationalen Siegeszug durch alle Projektwelten und Organisationsformen von Unternehmen angetreten. Denn wer will in VUCA-Zeiten* nicht flexibel auf unvorhergesehene Ereignisse, proaktiv in Bezug auf Veränderungen und möglichst auch noch innovativ planen und organisieren?
Da könnte es verwundern, dass der Titel eines Online-Beitrags ("Der Bank Blog") vom 20. Dezember 2023 auf ernüchternde Weise das zum Ausdruck bringt, was laut einer Studie ("Agile Pulse, 2023") der Management- und Technologieberatung Bearing Point den Alltag prägt: "Viele Unternehmen verstehen das Prinzip der Agilität nicht".
Untersuchungsgegenstand war der Stand der Einführung agiler Methoden und entsprechender Organisationsformen in vorrangig deutschen und österreichischen Unternehmen. Sie kommt zu dem Schluss: "Eine reine Einführung agiler Methoden und Frameworks reicht für die langfristige Zielerreichung (...) nicht aus" (ebd.).
Interessant wäre es, die Gründe für dieses offensichtliche Nicht-Verstehen zu eruieren. Diese werden sicherlich im Einzelfall unterschiedlich sein, zu vermuten wäre aber, dass es oftmals grundlegende Missverständnisse sind, die einem tatsächlichem Gelingen im Wege stehen. Agile Methoden und Frameworks lassen sich zunächst scheinbar mühelos in bestehende Strukturen und Prozesse oder in einigen Teilbereichen einführen. Dabei wird schnell übersehen, dass die Grundprinzipien wie Reflexivität und Rückbezüglichkeit nicht voraussetzungslos funktionieren. Agilität gelingt nur, wenn sie in die grundlegenden strategischen Entscheidungsprozesse und Organisationsstrukturen eines Unternehmens Eingang findet. Das jedoch setzt eine Veränderungsbereitschaft voraus, vor der viele Manager zurückschrecken dürften. Denn allzu oft wird die agile Transformation mit unreflektierten Schlagworten propagiert, wie z. B. den oft beschworenen "flachen Hierarchien", um nur eines auszuwählen. So etwas hört sich - zumindest für Aufgeschlossene - gut an, klärt jedoch wenig und suggeriert, dass Hierarchien grundsätzlich ungünstig, in jedem Fall aber "out" seien. Folgt man solchen unreflektierten Vorstellungen, landet man schnell in Widersprüchlichkeiten, die Frage unterschiedlicher Verantwortungsebenen bleibt z. B. ungeklärt.
Tatsächlich basiert Agilität auf theoretischen Konzepten, die eine Metaposition auf bestehende Strukturen und Prozesse in Organisationen erlaubt, um diese vor dem Hintergrund konkreter Unternehmenserfordernisse (z. B. Digitalisierung) anzupassen und zu erneuern. Damit stehen viele Aspekte auf dem Prüfstand - aber nicht unbedingt zur Disposition. Um beim Thema Hierarchie zu bleiben: Es kommt eben darauf an, von wem und wie über was entschieden und kommuniziert wird. Dabei wird es in jedem Unternehmen Unterschiede geben müssen - allein schon aus ganz pragmatischen Gründen der Arbeitsteilung und Effizienz, aber auch aus strategischen Gründen. Wesentlich sind nicht diese Unterschiede, sondern die Spielregeln, nach denen unterschieden wird. Im Sinne einer agilen Unternehmensführung sollten diese dann nachvollziehbar und transparent sein. Agile Transformation bedeutet also nicht, dass Altbewährtes per se plötzlich ausgedient hat. Vielmehr geht es um sinnvolle Veränderungsprozesse aus dem bestehenden Unternehmenskontext heraus, die "einerseits eine ganzheitliche, multidimensionale Betrachtung und andererseits eine evolutionär angelegte Transformation" (ebd.) in Angriff nehmen.
Quelle: Der Bank Blog, 23.12.2023, Autor: Dr. Hansjörg Leichsenring ( https://www.der-bank-blog.de/prinzip-der-agilitaet/studien/37705489/#google_vignette )
* das Akronym VUCA steht für "Volatility", "Uncertainty", "Complexity", "Ambiguity"